MAX MAGAZIN

Andreas Wrede

Wir alle leben ständig in Koexistenz

„Spiegelungen auf Glas umgeben uns alltäglich. Es sind irrsinnige Verdichtungen, die für mich von der Komplexität der Welt erzählen. Gerade heute ist es so wichtig zu begreifen, wie sehr wir miteinander vernetzt sind. Das Handeln und Denken jedes Einzelnen hat Auswirkungen auf Alle und Alles“, stellt die Fotokünstlerin und Regisseurin Franziska Stünkel, 46, fest. In dem wunderschönen Kunstband Coexist (erschienen im Kehrer Verlag) stellt sie dies unter künstlerischen Beweis. Aber nicht nur dort zeigt sich ihre enorme kreative Kraft.

Franziska Stünkel wirkt als Fotografin, Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin. Die Meisterschülerin fotografiert global seit über einem Jahrzehnt für ihr Fotoprojekt Coexist in Fenster und Schaufenster. Mit ihrer Kamera war sie auf allen Kontinenten unterwegs. Tag und Nacht durchstreifte sie dafür Städte wie Shanghai, Kapstadt, Marrakesch, New York.

Als Regisseurin arbeitet Franziska Stünkel gerade an ihrem Kinospielfilm Nahschuss (mit Lars Eidinger, einem der zur Zeit angesagtesten deutschen Schauspieler). Ehrenamtlich engagiert sie sich für die Gleichstellung der Frau im Film, für Menschenrechte und gegen Rassismus. Für ein Jahr nahm sie einen geflüchteten syrischen Künstler bei sich auf. Ist sie also eine Künstlerin mit einer Art 360-Grad-Sicht, die unermüdlich daran arbeitet die Grenzen ihres künstlerischen Potentials zu erweitern?

Franziska, gab es für Dich in Deiner Kindheit auch schon so eine große Begeisterung für Kunst? „Als ich in jungen Jahren mit der Fotografie anfing, habe ich im Badezimmer meiner Eltern ein Fotolabor eingerichtet.“ Das war gut für Franziska: Keiner durfte dann ins Bad, nicht so gut für Eltern und Schwester.

Vineta, eine Verfilmung des Theaterstückes Republik Vineta von Moritz Rinke, war ihr erster, großer Kinospielfilm. Sie war verantwortlich für Drehbuch, Regie, Koproduktion. Die Besetzung war für eine um die 30 Jahre junge Regisseurin ziemlich sensationell: Deutsche Stars wie Ulrich Matthes, Susanne Wolff, Peter Lohmeyer und Matthias Brandt, Bela B. machte mit Wir sind Helden die Musik.

Vineta handelt vom Thema Arbeitssucht. Ein Thema, das in unserer Gesellschaft bis heute aktuell ist. Wie getrieben sind wir?“ Franziska Stünkel wirft in ihren Drehbüchern gesellschaftspolitische Fragestellungen auf. „Am Drehbuch für Vineta habe ich sehr konzentriert ein Jahr geschrieben“, erzählt sie und offenbart eine ihrer Qualitäten – die Fähigkeit sich unbedingt auf ein Projekt einzulassen, oft über Jahre hinweg. Fällt ihr das Schreiben leicht? „Schreiben ist nicht leicht, ich schreibe am liebsten nachts, da bin ich noch fokussierter. Die Welt schläft gemeinhin, ich schreibe.“

Was dann folgen sollte, darf man getrost ein Mammut-Projekt nennen. Zwei Jahre arbeitete Franziska Stünkel als Regisseurin mit einem 400-köpfigen Team an Der Tag der Norddeutschen, einem 18-stündigen Dokumentarfilm. In Echtzeit wurde das Leben von 121 Menschen an einem Tag dokumentiert. Und wie schneidet man über 750 Stunden Film-Rohmaterial? „Es gab sieben Schneideräume, in denen parallel gearbeitet wurde. Ich bin dann vier Monate von einem in den nächsten gewechselt.“ Da ist sie wieder diese enorme künstlerische Persistenz.

Derzeit arbeitet sie an dem Kinofilm Nahschuss mit Lars Eidinger, Luise Heyer und Devid Striesow. Es geht um die letzte Hinrichtung in der DDR, inspiriert durch die Lebensgeschichte des Werner Teske, der 1981 zum Tode verurteilt worden war. In der DDR wurde die Todesstrafe bis 1981 verdeckt vollzogen, zumeist in Leipzig, dort befand sich die zentrale Hinrichtungsstätte.

„Sieben Jahre habe ich das Drehbuch recherchiert und geschrieben,“ erklärt Franziska Stünkel, „wir haben an Originalschauplätzen wie in Hohenschönhausen, einer Inhaftierungsanstalt für politische Gefangene drehen können.“

Ein Bereich, in dem sie weitgehend allein wirkt, ist die Fotografie und hier insbesondere ihr Coexist-Projekt. „Seit über zehn Jahren reise ich für Coexist. Ich fotografierte zuerst in Asien, Afrika und Europa, dann kam 2016 der Mittelmeerraum und jüngst Amerika hinzu.“ Da ist sie dann ganz auf sich allein gestellt mit ihrer Leica zu Fuß unterwegs, „am Tag meist 10, 15 oder 20 Kilometer“ oft für ein einziges Foto. Immer geht es in ihren Spiegelungen um das Thema Koexistenz, „denn wir befinden uns alle im Miteinander“, stellt Franziska Stünkel fest.

Sie fotografiert Reflexionen auf Glas, bearbeitet sie nie digital nach. „Dinge berühren sich, Menschen berühren sich – Jemand sitzt am Tisch eines Restaurants und durch seinen Kopf fährt ein Fahrradfahrer. So ergeben sich mentale Farbspiele, widersinnige Formen, verschobene Bilder. Wir haben es in Spiegelungen mit symbolischer Koexistenz zu tun,“ findet Franziska Stünkel, „natürlich gibt es dabei auch den uns nicht bewussten Bereich, mit dem wir dennoch ständig in Koexistenz leben. In diesen Teil unseres Lebens müssen wir ebenfalls schauen.“

Ihre Kunstband Coexist ist ein ungewöhnliches Buch, das man sehr gerne anfasst und berührt. In das Cover ist das Wort Coexistin mattes Papier reingeprägt, die Buchstaben selbst haben dann wieder einen speziellen Glanz, der wie Glas wirkt. Zusätzlich zu ihren 110 großformatigen Fotografien finden sich 17 lesenswerte Texte von u.a. dem Angstforscher Borwin Bandelow, dem Schriftsteller Bernhard Schlink, der Glücksforscherin Karen Guggenheim oder dem Experten für Künstliche Intelligenz Mark Stephen Meadows. „Mein großer Wunsch für das Buch war es das Thema Koexistenz koexistenziell zu teilen. Ich habe siebzehn Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen gefragt, was Koexistenz für sie bedeutet.“ Darunter auch ein Text über die Koexistenz von Maschine-Mensch am Beispiel von Sexrobotern, eine Studie über das Bindungshormon Oxytocin oder die Frage nach der Überwindung von Xenophobie. Entstanden ist ein vielschichtiger Blickauf die hochaktuelle Frage nach Koexistenz in unserer Gegenwart.

Wo wird es Franziska Stünkel noch hinziehen? „Mich zieht es immer dorthin, wo es vibriert. Im Moment scheint es nahezu überall zu vibrieren.“ Auf jeden Fall hat sie eine weltumspannende Assoziation und wir werden noch viel zu hören und zu sehen bekommen von der Fotokünstlerin und Regisseurin Franziska Stünkel, die auch daran denkt, dass gerade in diesem Moment, da Sie diesen Artikel lesen, über 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. Die sich aber ebenso darüber freuen kann, dass das renommierte Sprengel Museum in Hannover, wo sie wohnt, acht ihrer Fotowerke für dessen ständige Sammlung erworben hat. Wie erreicht man so etwas, wie wird man eine Künstlerin mit einer 360-Grad-Sicht? Genau, mit enormer kreativer Kraft… und Persistenz.

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Erstausgabe 2020