MAIK SCHLÜTER – EHEM. DIREKTOR MUSEUM FÜR FOTOGRAFIE BRAUNSCHWEIG UND KURATOR

Über die Fotografien von Franziska Stünkel

Gleißendes Sonnenlicht, Autos, moderne Architekturen, Ampeln, Passanten, Werbung an Fassaden und in Schaufenstern. Ein Bild von Franziska Stünkel, das auf den ersten Blick auch in Berlin, New York oder Shanghai hätte fotografiert werden können, da sich moderne Großstädte in vielerlei Hinsicht gleichen und kulturelle und ästhetische Unterschiede erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar werden. „All the Stories“ betitelt Franziska Stünkel eine Serie an Fotografien, die sie seit 2010 unter dem Obertitel „Coexist“ in Europa, Afrika und Asien kontinuierlich weiterentwickelt. Bilder, die  häufig komplexe urbane Sets zeigen, die die Künstlerin stets als Spiegelung in Schaufenstern oder anderen Glasflächen fotografiert. So entstehen ganz unmittelbar präzise Arrangements und Kompositionen, da die Bilder keiner weiteren Bearbeitung unterzogen werden.

Die Bilder müssen detailliert dechiffriert werden: Merry Christmas steht teilweise verdeckt in der Mitte des Bildes. Weihnachten erscheint hier als globales Phänomen, das  lediglich ein weiterer kommerzieller Event ist, dem wir auf allen Kontinenten begegnen. Franziska Stünkel spürt immer wieder kulturelle, ästhetische, aber auch soziale Übergänge auf und zeigt in ihrer Arbeit eine Soziologie des globalen städtischen Lebens, das sich auch durch eine internationale Zeichensprache und Produktpalette definieren lässt. Weiter oben im selben Bild erscheint spiegelverkehrt ein weiteres typografisches Fragment: Home. Die Frage nach der Heimat oder dem Zuhause, stellt sich auf verschiedene Weise. Flucht und Entwurzelung sind für viele Menschen eine existenzielle Frage. Aber auch in einem weniger dramatischen Zusammenhang hat Heimat eine Bedeutung: die Reisende Franziska Stünkel muss sich von Zuhause lösen, erkundet die Welt und verortet sich über ihre Arbeit als Künstlerin weltweit.

Franziska Stünkel verkehrt die äußere Anmutung der Welt scheinbar ins Gegenteil.

In ihren Spiegelungen sind die Seitenverhältnisse umgekehrt, innen und außen sind nicht mehr scharf getrennt und Personen, Räume und Objekte überlagern sich.

Bei genauerer Betrachtung erkennt man in der im Original großformatigen Fotografie die Spiegelung eines Jungen im linken Bildteil. Die Figur erscheint wie eine reale Paraphrase zum bekannten Bild des lachenden afrikanischen Kindes, das für Spendenaufrufe wirbt. Der Blickkontakt ist bei Stünkel aber nicht direkt, denn der Junge schaut nicht in die Kamera. Blickt er in die Schaufensterauslage oder auf die Straße? Die Vielschichtigkeit des urbanen Raumes wird in der Komplexität des Bildaufbaus gespiegelt. Die anderen Personen durchschreiten das Bild von links nach rechts oder kommen auf uns zu. Wie alle Großstadtpassanten gehen sie eilig und in sich versunken ihrer Wege. Kurze Blickkontakte, anonyme Begegnungen oder auch ein gleichgültiges nebeneinander prägen die Situation. Die Komposition von Franziska Stünkel verdichtet sich zu einer konzeptionellen künstlerischen Praxis,

die soziale Aspekte, Strategien der Straßenfotografie und eine globale Ästhetik gekonnt verbindet.

Das gilt auch für ein Bild, das 2017 in einer nordafrikanischen Stadt entstanden ist und eine weitere Komponente einführt: das Auftauchen von Fotografien in ihren eigenen Bildern. Stünkel zeigt eine spärlich möblierte Nähstube. In der Fensterscheibe wird der Außenraum einer Stadt sichtbar. Anders als im oben beschriebenen Bild aus Südafrika sehen wir hier ein eher ärmliches Exterieur und Interieur. Scheinbar im Innenraum der Näherei stehen zwei Frauen, die Kopftuch tragen und die wir automatisch als Muslima identifizieren. Hier zeigt sich, wir sehr wir von Zeichen, Symbolen, Codes und Chiffren in unserer Wahrnehmung geleitet werden und ganz selbstverständlich Zuordnungen vornehmen, obwohl wir nicht mehr als eine visuelle Quelle vor Augen haben. Bei genaueren Hinsehen erkennt man im oberen Teil des Bildes zwei Fotografien, die an der Wand der Näherei hängen: ein älterer Mann an einer Nähmaschine und ein junger Mann, der vermutlich irgendwo im Urlaub für das Foto posiert. Das eine Bild wirkt zufällig, eher ein Schnappschuss, das andere ist eine inszenierte, typische Aufnahme, wie sie häufig von Touristen aufgenommen wird.

So verkehren sich nicht nur visuell, sondern auch kulturell und ästhetisch die sozialen Parameter innerhalb von Franziska Stünkles Bild. Die Frauen, die wir selbstverständlich mit Näharbeit in Verbindung bringen, stehen nicht im Laden, sondern davor. Der Mann, obwohl abwesend oder nur im Foto präsent, sitzt auf dem beschriebenen Foto an der Nähmaschine und ist vermutlich Besitzer des momentan leeren Ladengeschäfts und genießt das männliche Privileg der Ausübung eines Berufes. Der junge Mann wiederum ist der tradierten Welt scheinbar entflohen und präsentiert sich wie jeder Tourist an einem Urlaubsort. So bringt Franziska Stünkel mit ihrem globalen Projekt Coexist nicht nur die räumliche Wahrnehmung ins Wanken, sondern hebelt auch die Klischees und Stereotypen über das vermeintlich Fremde und Andere aus.