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Ulrich Rüter, Kunsthistoriker

Über die Fotografien von Franziska Stünkel

Kaum ist es möglich, die Fotografien von Franziska Stünkel mit einem ersten Blick zu erschließen. Zu vielfältig sind die Ebenen, Formen und Details auf ihren großformatigen Tableaus. Für die im urbanen Kontext aufgenommenen Szenen hat sie eine spezielle Sichtweise entwickelt, die den Betrachter zu genauem Schauen auffordert. Vor allem ist es die Visualisierung von Vielfalt und Gleichzeitigkeit, die aus ihren Bildern sehr lebhafte und detailreiche Symbolbilder des alltäglichen Lebens im großstädtischen Umfeld werden lassen. Dabei sind es vor allem die spiegelnden Schaufensterscheiben, die das Interesse der Fotografin fesseln und in ihren Bildern die zentrale Aufgabe einer mehrschichtigen Darstellung übernehmen. Nicht nur steht die Fotografin in einer langen fotohistorischen Tradition des Schaufenstermotivs – von Eugène Atget, über Harry Callahan, Lisette Model bis hin zu Saul Leiter, um nur einige Vertreter der großstädtischen Street Photography zu nennen – sondern mit der Konzentration auf die reflektierenden Scheiben greift die Fotografin auch zwei der bis heute gebräuchlichsten Metaphern der Fotografie auf: die des Spiegels und die des Fensters. Zwar suggerieren sie eine Analogie des fotografischen Bildes zur fotografierten Wirklichkeit, die allerdings unmöglich erfüllt werden kann, da das zweidimensionale Bild immer nur einen subjektiven Eindruck der Raumwirklichkeit im Moment der Aufnahme wiedergeben kann. Daher geht die Fotografin bewusst einen anderen Weg als den der vermeintlichen Wirklichkeitsdarstellung. Sie präsentiert Bildräume, die nur fotografisch erzeugt werden können und überführt so den realen Stadtraum in ein künstlerisches Bild. Und so kann als eine weitere Assoziation die von Charles Baudelaire geäußerte Definition des modernen Kunstwerks hinzu gezogen werden, in der er das Transitorische, das Flüchtige zum für ihn entscheidenden Kennzeichen der ästhetischen Moderne benennt: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.” (1) Dieser Bestimmung gemäß ist das authentische Werk „radikal dem Augenblick des Entstehens verhaftet; gerade weil es sich in Aktualität verzehrt, kann es den gleichmäßigen Fluß der Trivialitäten anhalten, die Normalität durchbrechen und das unsterbliche Verlangen nach Schönheit für den Augenblick einer flüchtigen Verbindung des Ewigen mit dem Aktuellen befriedigen,” (2) so die weiterführende Interpretation von Jürgen Habermas. Bezogen auf die Werke von Franziska Stünkel lassen sich daraus fruchtbare Erkenntnisse ziehen.

Seit rund zehn Jahren fotografiert die Künstlerin in ihr fremden Städten und hat dabei auch das Konzept der bisher veröffentlichten Bildserien entwickelt. Seit 2007 erarbeitet sie die Werkgruppe der Spiegelungen, deren jüngste Aufnahmen im letzten Jahr entstanden sind. Dabei ist die Fotografie schon eine sehr viel längere Leidenschaft, obwohl die Autorin bisher vor allem als Regisseurin und Drehbuchautorin in der Öffentlichkeit bekannt ist. Aufgewachsen in der niedersächsischen Provinz, war ihr die Fotografie näher liegend als das große Kino. Die häusliche Dunkelkammer zählte zu den wichtigen künstlerischen Experimentierfeldern ihrer Jugend. Während ihres Film-Studiums an den Kunsthochschulen von Hannover, Hildesheim und Kassel belegte sie daher immer auch die Fotografie als zweites Fach. Und trotz aller Erfolge ihrer Kurzfilme, die dann auch schnell zum großen Spielfilm führten, hat sie auch weiterhin fotografisch gearbeitet. Erst als hier geschlossene Serien und Werkkomplexe entwickelt waren, ist sie mit diesen Arbeiten auch nach außen getreten. Das Fotografieren bedarf im Gegensatz zum Film ganz anderer Bedingungen, die Stünkel als Ergänzung, vielleicht auch als Ausgleich schätzt. Kinofilme sind vor allem Teamwork, es gibt Location-Scouts und der Regisseur hat sich permanent mit den Produktionsbedingungen zu beschäftigen. Beim Fotografieren hingegen ist Stünkel ganz allein unterwegs. Sie kann sich hier ganz auf ihre fotografische Intuition konzentrieren, sich der Fremde aussetzen. Ob es sich dabei um asiatische oder afrikanische Metropolen wie Shanghai oder Kapstadt handelt oder europäische Städte wie Barcelona, Cambridge, Hamburg, Riga oder Stockholm als Fundort dienten, ist nicht bedeutend, denn es geht der Fotografin nicht um pittoreske Merkmale, typische Sehenswürdigkeiten oder fotogene Orte der jeweiligen Stadt, sondern sie ist auf der Suche nach einer Fremde, die universell wahrgenommen werden soll. Daher wird auch auf die topografisch-erklärende Bildunterschrift bei den präsentierten Fotografien gänzlich verzichtet.

Nur mit der Kamera unterwegs, setzt sie sich die Fotografin als versierte Flaneurin, trainierte Fußgängerin und vor allem als äußerst aufmerksame Beobachterin auf belebten innerstädtischen Straßen fernab ihres bekannten Umfeldes dem unbekannten visuellen eindrücklichen Wirbel aus, lässt sich vom urbanen Strom treiben und begibt sich trotz Chaos, Lärm und Fremdheit auf die Suche nach individuellen Geschichten. Aus der Universalität der Fremde kristallisiert sie die universelle Sprache der Gefühle heraus indem sie andere Menschen in ihrem Umfeld beobachtet. Dabei sucht sie nicht die portraithafte Frontalität, sondern sie fotografiert in der Werkgruppe „all the stories” aufgeladene Szenen voller verschiedener Sinneseindrücke, in denen zwar Menschen auftauchen, aber nicht zum bestimmenden Teil der Aufnahme werden. Denn dieser setzt sich aus verschiedenen Ebenen zusammen. Außen- und Innenraum, das geschäftige Treiben auf der Straße und die ruhigere Atmosphäre eines Restaurants, Cafes oder Ladengeschäftes werden von der Fotografin zusammengebracht. Die beiden Welten überlagern sich aufgrund der Reflexionen der großen Fensterflächen. Dabei kommt sie durch jahrelang geübtes Sehen und sekundenschnelles Wahrnehmen von Situationen zu überwältigenden Bildergebnissen, die dem realen Sehen des menschlichen Augenapparates eigentlich widersprechen. „Ich scanne mittlerweile ganz schnell mein Umfeld. Das Auge kann sich zwar nur auf eine Ebene fokussieren, aber ich wittereaeagieren auf eine Situation ist eingeübter Ablauf, daher werden die fotografierten Personen nur in den seltensten Fällen die Arbeit der Fotografin bemerkt haben. Nur so bleibt ein intimer Moment sichtbar, der sich in einer wiederholenden Serie nicht bewahren ließe. Konzentration und Kontemplation liegen eng beieinander. Der Moment der Aufnahme ist das Bild. Dieses wird dann auch nicht beschnitten oder bearbeitet, trotz aller heutigen digitalen Verführungsmöglichkeiten. Hier ist es eine bewusste Entscheidung für das authentisch Fotografische, das im Gegensatz zum stark fiktionalen und gestalteten Moment des Filmens im Vordergrund ihrer Arbeit steht. Der authentische Moment, der im subjektiven Bild der Fotografin bewahrt wurde, soll sich auf den Betrachter übertragen. Dabei sind die Farben und Lichteindrücke der Fotografien entscheidende Stimmungsträger. Besonders angezogen wird die Fotografin von einer Leichtigkeit der Farben, die den Charakter eines Bildes bestimmen. Leuchtendes Rot, Rosa oder ein Grau-Blau sind häufig die Hauptakzente einer Fotografie, die übrigen Farben ordnen sich den jeweiligen Hauptfarben unter. Diese Farbigkeit lässt sich nur an hellen Tagen erzielen, denn nur das volle Tageslicht ermöglicht es, dass auch die Innenräume hinter den Schaufensterscheiben mit natürlichem Licht aufgeladen werden und nicht ein künstliches Licht die Situation bestimmt. Auch dies eine Erfahrung, die der Kinopraxis entgegensteht.

Die Ausarbeitung der einzelnen Aufnahmen in großformatige rahmenlose Diasec-Arbeiten erweitert die Wahrnehmung der Bilder um eine weitere Dimension. Der Betrachter kann nicht nur in die Fotografien hineinsehen, sondern spiegelt sich auf den hochglänzenden Oberflächen im Ausstellungsraum selbst wider und kann Teil des Bildes, Teil der innerbildlichen Kommunikation werden. Fernab jeglicher Tagesaktualität und zeitlicher Verortung wird er zu einer weiteren Facette der Geschichte. So wie das eigentliche Bild durch den fehlenden Rahmen keine Begrenzung aufzeigt, erscheint die Lesbarkeit unter Einbeziehung des Betrachters offen und erweiterbar in alle Richtungen. Das Bild bleibt in Bewegung, kann je nach Umgebung neu gesehen und interpretiert werden. Selbstwahrnehmung und Selbstbefragung sind das eigentliche Thema der fotografischen Serien. Nicht nur für die Fotografin, sondern auch für jeden Betrachter. Diese Fotografien erlauben als transparente Medien einen Blick durch das Bild zurück auf die Welt. Genau diese poetische Qualität zeichnet das Werk von Franziska Stünkel aus, und lässt es ganz im Sinne Baudelaires trotz seiner Flüchtigkeit zu etwas Tiefgründigem werden, das sich in seiner Zeitlosigkeit in das Bewusstsein der Betrachter unmerklich einschreibt. Nicht ohne Grund ist eben diese Erfahrung die entscheidende Grundkonstante der künstlerischen Wahrnehmung. So verschmelzen die spiegelnden Schaufensterscheiben mit ihren vielen Reflexionen mit der nachdenkenden Reflexion des Betrachters zu einem einzigartigen Erlebnis und erkenntnisreichem Vergnügen.

(1) Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Henry Schumann (Hg.), Charles Baudelaire, Der Künstler und das moderne Leben, Essays, „Salons”, intime Tagebücher, Leipzig 1990, S. 301.

(2) Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1991, S. 19.

(3) Mit dem Autor geführtes Gespräch am 4. Februar 2012.

(4) Ebd.

(5) Alexander Tolnay, Zu Fotografien von Franziska Stünkel, in: more than seven billion stories, Katalog der Galerie Robert Drees, Hannover 2011.

Der Text stammt aus:

DIALOG DER GESCHICHTEN

Fotokunstbuch mit fotografischen Arbeiten von Franziska Stünkel und Kai Wiesinger

Gudberg Verlag

ISBN: 978-3-943061-11-6

Herausgeberin: Jenny Falckenberg-Blunck