Dr. Alexander Tolnay
ehem. Direktor des Neuen Berliner Kunstvereins

Über die Fotografien von Franziska Stünkel

Zum besseren Verständnis dafür, was besonders bemerkenswert in Franziska Stünkels Bildern ist, möchte ich in wenigen Worte einige grundsätzliche Richtungsänderungen in der Fotokunst der Gegenwart aufzeigen, die auch für ihr Werk Gültigkeit haben. Die wohl bedeutendste dieser Veränderungen ist die völlig neue Funktion, die dem fotografischen Medium mittlerweile zugewiesen wird. Statt der Auffassung, dass es sich bei der Fotografie um die reine Wiedergabe der visuellen Wirklichkeit handelt, ist heute die Ansicht vorherrschend, dass wir es bei dem, was wir Realität nennen, stets mit einem – durch ästhetische und ideologische Parmameter bestimmten – kulturellen Konstrukt zu tun haben.

Diese Sicht eröffnet die Möglichkeit, die Suggestivität des Mediums auf eine ganze neue Weise nutzbar zu machen. Bei der zweiten Veränderung handelt es sich gewissermaßen um ein Fortschreiten von rein „äußerlichen“ Bildmotiven zu einer eher introspektiven Vorgehensweise, die es gestattet, bei der Darstellung der realen Beobachtungen subjektive Empfindungen einzubeziehen.

Dabei geht es letzten Endes darum, das Immaterielle „sichtbar“ zu machen und die eigene Sichtweise als jenen Ort zu erforschen, wo reale Gegebenheiten und persönliche Erfahrungen zusammentreffen. Mit der dritten Richtungsänderung schließlich wird Fotografie zu einem Instrument einer subtilen Kritik an unserer in einer von Entfremdung und Vereinsamung bedrohten Gesellschaft. Thematisiert werden dabei beispielsweise Fragen nach der Identität in einer Welt der Massenkultur oder nach Konsequenzen der kommerziellen Kolonisierung des globalisierten öffentlichen Raums.

Diese humanistische Sichtweise spiegelt sich auch im Titel dieser Ausstellung „Seven Billion Stories“. Er bezieht sich auf die Tatsache, dass es auf der Welt sieben Milliarden Menschen gibt und jeder einzelne eine eigene Geschichte darstellt, die aus vielen einzelnen Geschichten besteht.

Als Filmemacherin war und ist Franziska Stünkel stets eine Geschichtenerzählerin, daher spielt der narrative Moment in ihren Fotografien vergleichbar eine vorrangige Rolle. Mit traumwandlerischer Sicherheit erfassen ihre wie „Schnappschüsse“ wirkenden Aufnahmen scheinbar banale Alltagsszenen, die sich bei näherem Hinsehen als komplexe Wirklichkeitsbeobachtungen entpuppen, die das Fragmentierte zu einem Gesamtbild bündeln und das Nebensächliche in den Mittelpunkt rücken.

Die Realitätssplitter der verschiedenen Ebenen werden mit rätselhafter Poesie inszeniert und zu einem eigenen Kosmos verdichtet. In der scheinbaren Beiläufigkeit ist nichts zufällig; jede Aufnahme, jeder Ausschnitt ist das Ergebnis von bewusster Reflektion und das Produkt langjähriger Erfahrung von trainierten Augen für Raumkomposition.

Es sind drei Aspekte in Stünkels Raumwahrnehmung, die sich in ihren Beziehungen zu unterschiedlichen Raumbegriffen zu erkennen geben: erstens das Verhältnis zum architektonischen, vor allem städtischen Raum, zweitens zum gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen Raum und schließlich zum so genannten „Sehraum“, der für eine bestimmte Idee von elementaren Grundlagen der Kunst – wie Licht und Schatten, Farbe und Komposition – steht. An diesen drei Strängen entlang baut sich die Bildstruktur ihrer Fotokunst auf.

Franziska Stünkel hat überwiegend auf ihren Reisen fotografiert. Die Exponate der hier gezeigten zwei Serien wurden in mehreren Ländern von Europa über die USA bis China aufgenommen. In Abwandlung einer berühmten Äußerung von Pablo Picasso, mit der er seine Arbeitsweise zu umschreiben wusste: „Ich suche nicht, ich finde“, fand sie ihre Bildmotive außerhalb der Kategorien der touristischen Erwartungen und spürte jene Situationen in den Städten auf, die ihre Widersprüchlichkeit widerspiegeln.

Das Zusammenspiel der Vielfalt der abgebildeten Personen und der Stadtlandschaft in ihren Bildern erzeugen intensive Stimmungen. Sie lösen stets ein Gefühl des Unbehagens und der Irritation hervor. Das Vertraute wird plötzlich fremd, die Aufmerksamkeit wird auf unerwartete Kontraste gelenkt. In den beiden Fotoserien der Ausstellung bedient sich Franziska Stünkel eines beliebten und häufig benützten Topos in der Kunst, nämlich den der Spiegelung. Die Bilder der zwei Serien verkörpern jedoch zwei unterschiedliche Interpretationen dieses Phänomens, demnach die Spiegelung sowohl physikalische als auch gefühlsmässige Irritation auslösen kann. Die Fotos der Reihe „All The Stories“ bestehen aus tatsächlichen Spiegelungen, welche die Relativität und Subjektivität unserer Wahrnehmung reflektieren.

Bei der „One of All“ sind es die abgelichteten Figuren, in deren Körperhaltung oder Gesichtsausdruck wir Spiegelungen ihrer psychologischen Zustände oder Spuren von Schicksalsschlägen sehen. Bei den Ersteren verliert sich der Betrachter in einem verwirrenden, optisch überw.ltigenden Vexierspiel der Perspektiven; bei den zweiten werden Szenen von flüchtiger Erscheinungen und transitorische Situationen – Selbstvergessenheit, Einsamkeit, Introspektion – sensibel ins Bild gefasst.

Franziska Stünkel ist eine sehr aufmerksame Beobachterin, die sowohl an die äußere Wirklichkeit als auch die innere Befindlichkeit Fragen stellt. Ihre Fragen, Ihr Augenmerk sind sowohl an unsere Umgebung und deren unaufhaltsame Veränderung, als auch an die davon betroffenen Menschen und ihre Geschichten gerichtet. Sie stellt die dokumentierenden Funktionen der Fotografie in den Dienst einer Untersuchung von Gegebenheiten, wie sie diese in der Gesellschaft antrifft, um jenen Momenten auf die Spur zu kommen, in denen sich die Menschen in ihren eigenen Geschichten – in „all the stories“ – verwirklichen. Zu gleicher Zeit entbindet sie die Fotografie ihrer Funktion als Mittel der bloßen Dokumentation, in dem sie mit der Wahl der Ausschnitte, mit der Schärfe der Fokussierung auf die Details, die sie aus dem Kontext einer alltäglichen Realität herausgreift, ihnen einen autonomen Stellenwert einräumt und künstlerisch interpretiert.

Wenn man sich in die Bilder von Franziska Stünkel vertieft, bemerkt man nach einer Weile, dass diese eigentlich etwas beschreiben, was sich trotz aller erkennbaren Merkmale des Realen der leichten Konsumierung eigentlich entziehen. Sie loten zwar individuelle Welten aus, die jeweils ihre besonderen Geschichten erzählen, sie wirken jedoch ins Allgemeine transformiert, in dem die eine in die andere aufgeht.

So spinnt sich der Faden einer Kohärenz, die von dem Außenraum in den Innenraum führt, von dem öffentlichen Bezirk in den privaten, von der greifbaren Materie in den immateriellen Bereich des Seelischen und Geistigen, von der realen Welt der Erscheinungen in die Welt der Sinnbilder. Franziska Stünkels fotografische Abbildungen legen dabei einen wichtigen Weg zurück zu Bildergebnissen, in denen wesentliche Tendenzen der zeitgenössischen Fotokunst und die kreativen Möglichkeiten des Mediums Fotografie sichtbar werden.

Der Text stammt aus dem Ausstellungskatalog MORE THAN SEVEN BILLION STORIES

Fotografien von Franziska Stünkel

Format: 15 cm x 12 cm

Umfang: 68 Seiten

Sprache: Deutsch

Veröffentlichung: Januar 2012